Oxforder Bestiarium
Gegen
Ende des 12. Jh.s wurde eine neue Buchgattung in England sehr populär,
das illustrierte Bestiarium, ein biblisches Tierbuch. Otto Mazal weiß in
seiner Buchkunst der Romanik (Graz 1978) darüber zu berichten: „An der
Wurzel dieses Buchtyps steht der griechische Physiologus, ein
christliches Handbuch der spätantiken, symbolisierenden Naturkunde. Auf
wirkliche und erdachte Tiere, über die man Material aus antiken Autoren
bezog, wurden mythische Wesenszüge übertragen und diese in
allegorisierender Deutung auf Christus, die Kirche, die Menschen und
Dämonen bezogen.
Die Tierallegorien, die allmählich Gemeingut des Volkes wurden,
erfreuten sich im Mittelalter großer Beliebtheit. Der lateinische
Prosatext wurde die Grundlage für die Bearbeitung des mittelalterlichen
Bestiariums. Früheste Handschriften sind aus dem 8. bis 10. Jh.
erhalten. Sie stellen verschiedene Rezensionen dar. Kein Bindeglied
existiert zu den Bestiarien des 12. Jh.s, deren plötzliches Auftreten
ein geistesgeschichtlich interessantes Phänomen darstellt.
Phantastische Tierbilder auf reichem Blattgold
Die
Bücher mochten als Teil der enzyklopädischen Tradition des 12. und 13.
Jh.s gelten, wobei das neu erwachende Interesse an der Natur spezielle
Berücksichtigung fand. Dieses Interesse zeigt sich auch in den
zeitgenössischen Handschriften des Plinius, Solinus, Isidor und
Aristoteles sowie in eigenständigen, naturwissenschaftlichen Werken.
Die Bilder sind im Text unregelmäßig verstreut, gelegentlich wird auch
ein Tier durch mehrere der beschriebenen Eigenschaften charakterisiert.
Die Gestalt der Tiere ist nach modernen Begriffen oft recht sonderbar:
ein Krokodil mit Drachenkopf und Vogelfüßen, ein gehörnter Panther,
willkürliche Farbgebung seien nur ausgewählte Andeutungen für die
willkürliche Ikonographie, die fern von Naturstudien auf der freien
Verwertung der literarischen Vorbilder beruhte.“
130 leuchtende Miniaturen
Vom
Anfang des 13. Jh. stammt auch die hier vorzustellende
Bestiarium-Handschrift aus dem Besitz der Bodleian Library in Oxford,
die wohl zu den schönsten dieses Buchtyps überhaupt zählt.
Dieser prachtvoll mit Blattgold ausgestattete Codex besticht nicht nur
durch die großartige leuchtende Deckfarbenmalerei und die klare
Einprägsamkeit der Tier-, Pflanzen- und Menschendarstellung, sondern
auch durch seine Vorliebe zu ruhiger Symmetrie, feinen Ornamenten und
oft liebevoll gemusterten Hintergründen.
Und die 130 Miniaturen in dem 105 Blatt umfassenden Buchblock
illustrieren nicht nur Kapitel über die Natur der Tiere, die Vögel, die
Schlangen, die Eigenschaften der Schlangen, die Würmer, über die Fische,
die Bäume, die Feuersteine oder die Natur der Menschen, sondern auch
die Schöpfungsgeschichte mit besonders großen und stark erzählenden
Bildern am Anfang des Buches.
Von Einhörnern und berühmten Tauben
Unglaublich
groß ist die Fülle der dargestellten Lebewesen. Diese Aufzählung soll
nur einige nennen, um den Reichtum der Handschrift anzudeuten:
Löwe, Tiger, Panther, Antilope, Einhorn, Luchs, Elefant, Steinbock,
Hyäne, Affe, Satyr, Hirsch, Ziege, Bär, Fuchs, Wolf, Hunde, Lamm, Kamel,
Dromedar, Esel, Wiesel, Igel, Ameise, Taube, die Taube Christi, die
Taube Davids, die Taube Noahs, Nordwind, Südwind, Falke, Sperling,
Pelikan, Rabe, Wiedehopf, Hahn, Papagei, Schwalbe, Amsel, Uhu,
Fledermaus, Storch, Rebhuhn, Elch, Wasservogel, Krähe, Pfau, Adler,
Biene, Drache, Echse, Otter, Eidechse, Salamander, Würmer, Wal, Delphin,
Meerschwein, Krokodil, Feigenbaum, Brombeere, Nussbaum, Eiche, Buche,
Tanne, Zeder, Zypresse, Platane, Ulme, Weide, Buchsbaum. … Beinahe
beliebig könnte die Aufzählung fortgesetzt werden, denn so groß ist die
Fülle an dargestellter und beschriebener lebendiger Umwelt. Kaum eines
der übrigen erhaltenen Bestiarien ist so reich wie unsere Handschrift.