In der Tradition der äthiopischen Buchkunst ist ein Sänsul
ein gefaltetes Buch mit farbenfrohen Illustrationen, die sich durch in
der ganzen Handschrift auftauchende Figuren mit großen, mandelförmigen
Augen auszeichnen. Unter ihnen ragt eine schön gekleidete Adeligen
hervor, die gleich zu Beginn vorkommt und die wahrscheinlich das Werk in
Auftrag gegeben hat. Dieses Sänsul ist ein seltenes und kostbares
Beispiel äthiopischer "Naif"-Illumination des 15. Jahrhunderts und
enthält Hymnen und Lobgedichte, die sich auf unterschiedliche Inhalte
des christlichen Glaubens beziehen wie die Verkündigung, die Heilige
Dreifaltigkeit, die Ältesten aus der Apokalypse und den heiligen Gabra
Manfas Qeddus: Er war ein ägyptischer Mönch, der schon Jahrhunderte lang
gelebt haben soll, bevor er nach Äthiopien kam, um die Frohe Botschaft
zu verkünden. Die bekannten vier Evangelistensymbole schmücken das Bild
der Heiligen Dreifaltigkeit. Der Text ist in Ge'ez geschrieben,
einer klassischen äthiopischen Sprache, die noch heute für liturgische
Zwecke verwendet wird. Dieses eindrückliche Exemplar äthiopischer Kunst
gibt einen faszinierenden Einblick in das mittelalterliche Christentum
außerhalb Europas.
Hymne an die Dreifaltigkeit
Äthiopien ist eines der ältesten Länder der Welt, war das zweite, das das Christentum annahm,
und hat als solches eine einzigartige und faszinierende Tradition
religiöser Kunst. Bei dem vorliegenden kleinen, aber reich illuminierten
Manuskript handelt es sich um ein sogenanntes Sansül, ein Akkordeonbuch, das von Mitgliedern der äthiopischen Elite in der gleichen Weise verwendet wurde wie Stundenbücher von europäischen Adligen. Es gehört zum Melke'-Genre der Ge'ez-Sprache und preist die Heilige Dreifaltigkeit, die Jungfrau Maria, die Erzengel und die am meisten verehrten Heiligen des äthiopischen Christentums.
Lobgedichte
Der Text stammt von der Hand eines Mönchs aus der Region Gondar, ist mit schwarzer und roter Tinte geschrieben und scheint eine Kopie eines Gedichts aus den Oxyrhynchus Papyri aus dem 11. Jahrhundert
zu sein. In Strophen von 4-6 Versen gegliedert, setzt das Gedicht jeden
Teil des Körpers mit Passagen aus der Bibel gleich und verbindet ihn
mit Gnaden, die der Dreifaltigkeit zugeschrieben werden. Besondere
Aufmerksamkeit erhält in der Handschrift auch der heilige Gabra Manfas Qeddus
(auch Gebre Menfes Kidus geschrieben), dem im äthiopischen Kalender der
fünfte Tag eines jeden Monats gewidmet ist. Der Text ist auf beiden
Seiten des gefalteten Pergaments in 16-zeiligen Spalten geschrieben - 51
auf der Vorderseite und 40 auf der Rückseite zur Einleitung der
Miniaturen. Die erste stellt die Verkündigung dar und zeigt die Jungfrau
Maria beim Nähen und Lesen eines Buches, als der Engel Gabriel in einem
Wolkenkranz über ihr erscheint, während sich der Heilige Geist in Form
einer Taube ihr nähert.
Eine einzigartige künstlerische Tradition
Obwohl viele Züge der äthiopischen Kunst und des dortigen Kunsthandwerks
wie Textilien und Schmuck denen ihrer Nachbarn ziemlich ähnlich sind,
ist gerade **die religiöse Kunst des christlichen Äthiopiens
unverwechselbar und einzigartig unter seinen muslimischen Nachbarn. Nichtsdestotrotz gibt es einige Hinweise auf byzantinische Einflüsse in den Werken, wie die statische, typisierte Darstellung von Gesichtern mit den großen Augen und ausdrucksstarker, fast übertriebener Gestik.
Die äthiopischen Künstler hatten jedoch ihre eigenen innovativen
Variationen typischer Elemente in der christlichen Kunst, wie z. B. die
Mandorla – eine mandelförmige Rahmung, in der typischerweise Christus in
seiner Herrlichkeit dargestellt ist. Die Darstellung der Heiligen
Dreifaltigkeit in dieser Handschrift verwendet eine sechseckige Mandorla innerhalb eines Quadrats, die in den Ecken Platz für die vier Evangelistensymbole schafft,
die wiederum an den Rändern von den vierundzwanzig Ältesten aus dem
Buch der Offenbarung flankiert werden. Ähnlich wie in einem europäischen
Stundenbuch erscheint an den Rändern zwischen den Szenen eine reich gekleidete weibliche Figur, wahrscheinlich die Auftraggeberin des Werkes.
Die antiken Wurzeln des äthiopischen Christentums
Um das Jahr 316 wurden ein junger christlicher Missionar namens Frumentius und sein Bruder Edesius versklavt,
als ihr Schiff in einen Hafen am Roten Meer gelangte und dem König der
Äthiopier in Aksum übergeben wurde. Aus ihrer Knechtschaft stiegen sie in Vertrauensstellungen am königlichen Hof auf, dessen Mitglieder sie zum Christentum zu bekehren begannen.
Eine äthiopische Münze aus dem Jahr 324 zeigt bereits Hinweise darauf,
dass die Bekehrung des gesamten Landes im Gange war. Der Großteil der
Bevölkerung wurde im Laufe der 330er Jahre bekehrt und das Christentum
wurde bereits um 340 zur Staatsreligion erklärt. Eng verwandt mit dem
koptischen Christentum Ägyptens, ist die äthiopisch-orthodoxe Tewahedo-Kirche seit über 1500 Jahren die vorherrschende Religion in Äthiopien.
Äthiopien und Europa
Nachdem seine Nachbarn im Laufe des 7. Jahrhunderts zum Islam konvertierten, war Äthiopien von anderen christlichen Nationen isoliert. Im Laufe des Mittelalters und besonders nach Beginn der Kreuzzüge versuchten die Europäer immer wieder, mit Äthiopien als christlichem Verbündeten in der Region Kontakt aufzunehmen und umgekehrt. Äthiopische Mönche reisten auch in den Westen
und nahmen z.B. am Konzil von Florenz 1441 teil. Portugal nahm als
erstes europäisches Land kontinuierliche Beziehungen zu Äthiopien auf,
die 1508 begannen, aber das Land blieb dennoch relativ isoliert und
unabhängig. Äthiopien war schließlich eine von nur zwei afrikanischen
Nationen, die sich im 19. Jahrhundert der Kolonialisierung entziehen
konnten, und die äthiopische Identität definiert sich bis heute durch das Christentum und einen Geist der Unabhängigkeit.