Die
nachkarolingische Handschrift „Sternbilder der Antike“ entstand um das
Jahr 1000 im französischen Kloster Fleury, einem Zentrum der
mittelalterlichen Astronomie. Durch diese Abschrift eines Lehrgedichts
des berühmten antiken Dichters Aratos wurde das gesammelte astronomische
Wissen der Antike bewahrt und auf eine beeindruckende Weise
verbildlicht: 23 zart kolorierte Federzeichnungen zu den Sternbildern,
sowie sieben Himmelskarten, Hemi- und Planisphären und die
Planetenbahnen mit Tierkreis schmücken diese historisch bedeutende
Bilderhandschrift.
Sternbilder der Antike
Sternbilder waren Jahrtausende lang der entscheidende Wegweiser für Seefahrer, Handelskarawanen und Reisende.
Heute haben technische Neuerungen die Sternbilder als Reisenavigator
ersetzt, aber die Faszination für die Sternenbilder, denen wir seit
Menschheit Anbeginn jede Nacht aufs Neue begegnen, hält ungebrochen an.
Von der Antike bis zum Mittelalter, genauer bis zum Ende des 12.
Jahrhunderts gingen in Europa sämtliche Abhandlungen zu Sternbildern auf die griechische Himmelsbeschreibung des Dichters Aratos von Soloi
(um 310–240 v. Chr.) zurück. Als einzige Referenzquelle kommt seinem
Werk unschätzbare Bedeutung zu und ist auch die textliche Grundlage für
die „Sternbilder der Antike“.
Aratos – der antike Dichter der Sterne
Aratos
verfasste sein astronomisches Lehrgedicht zwischen 276 und 274 v. Chr.
am makedonischen Hof und gab seinem Gedicht den Titel „Phainomena“, was
übersetzt „Erscheinungen“ bedeutet. Schon bald war das Werk des Dichters
Aratos auch in Rom bekannt, wo Claudius Germanicus (15 v. Chr.), ein
Großneffe von Kaiser Augustus, das Werk ins Lateinische übersetzte. Die
lateinische Übersetzung des „Phainomena“ hat letztlich das astronomische Lehrgedicht in einen christlichen Kontext neu verankert. Ausgehend von der Position der Sternbilder erklärt Aratos die Himmelskreise: den nördlichen und südlichen Wendekreis, den Äquator, den Tierkreis und schließlich die Milchstraße.
In seinen Ausführungen unterscheidet der antike Gelehrte zwischen Fix-
und Wandelsternen und erläutert seine Erkenntnisse zu den fünf Planeten.
Die Eingangsminiatur – Die Kunst der Karolinger in antiker Tradition
In
der Eingangsminiatur (auf 11v) wird dem Dichter inmitten seiner Schrift
ein Denkmal gesetzt: Darin diskutiert Aratos, eingerahmt von zwei
korinthischen Säulen, mit seiner Muse Urania über den
zwischen ihnen stehenden Himmelsglobus. Die Figurengruppe mit dem
Dichter Aratos und seiner Muse Urania ist, bis auf eine weitere
Handschrift, einmalig in der Kunstgeschichte und von
unschätzbarer Bedeutung. Diese Miniatur mit Faltstuhl, Toga, dem
Globusständer mit den Löwenfüßen ist beispielhaft für die klassische
Tradition, wie sie in der Kunst der Karolinger gelobpreist wurde.
Im Zentrum für astronomische Studien: Die Abtei Fleury
Durch seine Rückbesinnung auf das Wissen der Antike leitete Karl der Große
eine systematische Erneuerung der Wissenschaften ein. Im Zuge der
Entwicklung der frühmittelalterlichen Klosterschulen zu bedeutenden
Wissenschaftszentren, etablierte sich die Abtei von Fleury in Saint-Benoit-sur-Loire östlich von Orléans zum wichtigsten Zentrum für astronomische Studien vom 10. bis 11. Jahrhundert. Diesen Status etablierte sich die Abtei durch ihre beeindruckende technische Ausstattung: zahlreiche Himmelsgloben und diverse Geräte zur systematischen Sternenbeobachtung gehörten ebenso zum Inventar wie eine riesige Bibliothek,
die in einem separaten mehrgeschossigen Gebäude untergebracht war und
das Herzstück von Fleury darstellte. An diesem Ort der
Wissensakkumulation und der Gelehrsamkeit wurde die Handschrift
„Sternbilder der Antike“ um 1000 von der antiken Vorlage abgeschrieben
und in selten gesehener Pracht illustriert. Außergewöhnlich an den
„Sternbildern der Antike“ ist die beeindruckende Handwerkskunst, in der
die Seiten durch schwungvolle und zart kolorierte Federzeichnungen,
auch nach über tausend Jahren, die Schrift ergänzen. Diese Zeichnungen
sind nicht nur Zeugnisse der mittelalterlichen Buchkunst, sondern
erlauben faszinierende Einblicke in das Bild des Kosmos, das in jener Zeit die Vorstellung der Astronomen dominiert hat.
Das Astronomiebuch der Nachkarolingerzeit.
Die auf Pergament gearbeitete Handschrift ist, trotz ihrer tausend Jahre, außergewöhnlich gut erhalten. Ihren heutigen Ledereinband in Blindprägung erhielt die historische Handschrift im 17. Jahrhundert in London und ist auf Vorder- und Rückdeckel mit geometrischen Motiven
und Bildprägungen verziert. Die Bilderhandschrift hielt sich bis 1913
in Privatbesitz und wurde dann der Nationalbibliothek von Wales in
Aberystwyth gestiftet. Heute wird sie unter der Signatur Ms 735C in der
Nationalbibliothek von Wales in Aberystwyth aufbewahrt. Seither gilt sie
als die älteste Handschrift der Nationalbibliothek und wird als
besonderer Schatz gehütet. Im Angesicht der technischen Errungenschaften
unserer Zeit, in der Hochleistungsrechner und Riesenteleskope die
Möglichkeiten eines einzelnen Menschen unbedeutsam erscheinen lassen,
ist es umso erstaunlicher, welche Beobachtungen der antike Dichter
Aratos in seinem Lehrgedicht niedergeschrieben hat und die Welt bis
heute fasziniert.