Die
spätmittelalterliche Entwicklung der Historienbibel genießt eine große
Freiheit gegenüber der verschiedenartigen Herkunft ihrer Quellen. Sie
kombinieren biblische Erzählungen und Profangeschichte und füllen die
Lücken freimütig mit apokryphen Schriften, Legenden und weltlichen
Geschichtswerken. Das Resultat ist eine Universalgeschichte von der
Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht, die vielen Generationen als einziges
Geschichtswerk überhaupt diente. Die Vorauer Volksbibel ist die
schönste deutsche Bilderbibel: In einer bayerisch-österreichischen
Mundart verfasst und einer gut lesbaren Bastarda geschrieben, ist sogar
der Tag ihrer Vollendung festgehalten: der 31.10.1467. Vor allem
besticht sie aber durch ganze 559 farbenfrohe Miniaturen, die dem
mittelalterlichen Leser als Zusammenfassung und Illustration der Texte
dienten; heute geben sie einen unschätzbaren, lebendigen Einblick für
die Kostüm- und Realienkunde jener Tage.
Die schönste deutsche Bilderbibel
Das
ausgehende Mittelalter war von großen geistigen, gesellschaftlichen und
wirtschaftlichen Umwälzungen gekennzeichnet. Diese spiegeln sich auch
in den Handschriften jener Zeit wider, die als hervorragende Dokumente
der kulturellen Entwicklung gelten können.
Eine besondere Stellung kommt in diesem Zusammenhang den Historienbibeln
zu. In ihnen wurden die biblischen Erzählungen durch profanhistorische
und philosophische Exkurse zu einer Art mittelalterlicher
Universalgeschichte, die von der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht
reichte, ausgebaut. Wo das biblische Geschehen historische Lücken
aufwies, schloß man diese unter Heranziehung apokrypher Schriften,
Legenden und weltlicher Geschichtswerke. In der Sprache des Volkes
verfaßt, erfüllten die Historienbibeln somit einerseits die Forderung
nach religiös-erzieherischer Erbauung, dienten andererseits zugleich
aber auch weiten Teilen der Bevölkerung als einzig zugängliches
Geschichtsbuch.
Unter den rund 100 deutschsprachigen Historienbibeln nimmt die Vorauer
Volksbibel in künstlerischer Hinsicht unbestritten den höchsten Rang
ein. Insgesamt 559 (!) Miniaturen begleiten den in einer
baierisch-österreichischen Mundart verfaßten Text und belegen einmal
mehr die starke Bilderfreude des Spätmittelalters.
Die in
leuchtenden Aquarellfarben kolorierten, mit großer Kunstfertigkeit
ausgeführten Federzeichnungen gewinnen ihren unverwechselbaren Reiz
durch eine starke Expressivität. In den von innerer und äußerer
Bewegtheit erfaßten Figuren zeigen sich bereits erste Ansätze zu einer
Charakterisierung und Individualisierung – Stilmerkmale, nach denen man
in der „hohen Kunst“ dieser Zeit noch vergeblich sucht.
Dienten die Miniaturen ursprünglich in erster Linie dazu, die Texte zu
interpretieren und zu illustrieren, so erfüllen sie für den heutigen
Betrachter eine weitere Funktion: Sie dokumentieren das mittelalterliche
Leben auf vielfältige Weise. Durch die Federzeichnungen wird die
Vorauer Volksbibel so auch zu einer nahezu unerschöpflichen Quelle für
die Kostüm- und Realienkunde ihrer Entstehungszeit.
Der Text der
Vorauer Volksbibel wurde sehr sorgfältig im Schrifttyp der
österreichischen Bastarda ausgeführt. Diese Buchschrift ist auch für den
in Paläographie Ungeübten ohne größere Schwierigkeiten zu lesen. Für
die Kapitelüberschriften und die auf den Recto-Seiten eingetragenen
Buchangaben wurde die Farbe Rot gewählt, die Initialen sind in Rot und
Blau gegeben. Kleine rote Striche, die dem Buchstabenkörper folgen und
diesen dann und wann auch durchschneiden, sorgen zusätzlich für eine
farbige Abwechslung im Text.
Von äußerster Seltenheit ist die
Tatsache, daß die Vorauer Volksbibel auf den Tag genau datiert werden
kann. Auf fol. 447v findet sich eine entsprechende Eintragung des
Schreibers: „Also hat ein endt dy wibel dy alt ee vnd ein tail der newen
ee vnd ist geendt waren in vigilia omnium sanctorum anno domini M °CCCC
°67“. Der Tag der Fertigstellung war demnach der 31. 10. 1467. Der Name
des Schreibers ist uns nicht überliefert. Mit größter
Wahrscheinlichkeit handelt es sich bei ihm um einen in religiösen
Belangen wohlunterrichteten, im süddeutschen Raum ansässigen
Geistlichen.
Auf welche Weise die Handschrift den Weg nach Vorau gefunden hat, ließ
sich bis heute nicht genau feststellen. Ihre erste Nennung dort fällt in
das Jahr 1733. Spätestens seit damals befindet sie sich im Besitz des
Stiftes und gehört zu dessen größten Kostbarkeiten.