Das
Verhältnis von Text und Bildern ist in dieser besonderen illuminierten
Handschrift der Gotik deutlich zu Gunsten der Bilder verschoben: Auf 129
Seiten finden sich mehr als 1000 Medaillonminiaturen. Jede von ihnen
erzählt ihre eigene Geschichte eben en miniature, zu der der
französische Text vor allem eine illustrierende Rolle einnimmt. Texte
und Miniaturen sind gekennzeichnet durch Klarheit und Eindeutigkeit.
Dies entspricht dem Ziel und der Absicht einer Bible moralisée, nämlich
der moralischen Erbauung und der Hilfe bei der alltagsweltlichen
Orientierung. Dass die Welt von einer erkennbaren Ordnung strukturiert
ist, nach der man leben soll, macht schon zu Beginn die weltberühmte
ganzseitige Eingangsminiatur deutlich: Sie zeigt Gott als Architekten,
der zwar sehr konzentriert, aber auch liebevoll und aufmerksam seine
Schöpfung mit einem Zirkel vermisst. Ein spannendes Bilderbuch für
höchste Ansprüche!
1000 goldene Miniaturen aus der französischen Gotik
Die
berühmte Bible moralisée ist eine der prächtigsten gotischen
Handschriften aus dem 13. Jh. Auf den 136 Bildseiten finden wir
insgesamt nicht weniger als 1032 Bildmedaillons und ein ganzseitiges
Vollbild, das mit der Darstellung Gottes als Architekt des Universums
große Berühmtheit erlangt hat. Diese hervorragende Handschrift tritt dem
Betrachter als aufwendig gestaltetes Bilderbuch entgegen, wobei der
Text, der in französischer Sprache abgefaßt ist, eigentlich nur als
Erläuterung der Illustration auftritt.
Wie die Bezeichnung dieser
Handschrift besagt, herrscht in der Bible moralisée die moralische
Schriftauslegung etwas vor, doch kennt sie auch alle anderen Spielarten
der geistlichen Schriftexegese. Versucht man ihren Zweck zu umschreiben,
wird man sie wohl ein Erbauungsbuch nennen dürfen. Da es sich aufgrund
des hohen Aufwandes um eine ungewöhnlich kostspielige Handschrift
gehandelt hat, war vermutlich eine sozial hochgestellte Persönlichkeit
der Auftraggeber oder Empfänger.
Die einzigartige Wirkung dieser
Bilderhandschrift geht von den goldgrundierten, farbigen Bildmedaillons
aus, in denen Szenen aus Büchern des Alten Testamentes dargestellt sind.
Der Inhalt dieser Szenen ist schon allein durch diese Illustrationen
lesbar; der begleitende Text faßt die jeweilige Passage zusammen oder
paraphrasiert sie. Die Miniaturen überzeugen durch die Durchschlagskraft
der Erzählung, ihre Eindeutigkeit und auch Drastik.
Die
Gegenüberstellung von Bild und erklärendem Text biblischer Erzählungen
ist uns nur durch wenige Handschriften überliefert. Unser Codex
unterscheidet sich von anderen gleichzeitigen Handschriften durch die
Farbigkeit, die insgesamt in der Grundmusterung und den Figuren gedämpft
wirkt. Bei den Farben herrschen ein dunkles Blau und ein Rotbraun vor,
das in den verschiedensten Abstufungen verwendet wird. Eine strahlende
Wirkung erhalten die Bildseiten durch den dunklen Goldgrund.
Lebendigkeit wird aber auch durch den gesteigerten Schwung und Impetus
der Figuren erreicht. Die Kompositionen sind großzügig und füllen die
Medaillons ganz aus. Oft überschreiten die bewegten Figuren auch den
gesetzten Rahmen, wodurch die Wirkung der Erzählung dramatisch
gesteigert wird.
Ein himmlisches Bilderbuch
Diese Bilderhandschrift, die auch ohne Text „lesbar“ ist, folgt
durchgehend einem formalen Schema: Auf jeder Seite werden acht
Medaillons auf gemustertem Grund zu einem Block zusammengefügt, der
links und rechts von je vier Textabschnitten begleitet wird. Durch einen
schmalen Rahmen wird das Ganze umschlossen. Inhaltlich gehören jeweils
zwei untereinander stehende Bildmedaillons und die sie begleitenden
Texte zusammen. Im oberen Textabschnitt wird eine Passage aus der Bibel
zusammengefaßt oder paraphrasiert, in der Miniatur daneben ist die Szene
dargestellt. Der Textabschnitt darunter enthält eine Auslegung des
Bibeltextes, die wiederum illustriert ist. Der Bildzyklus ist jeweils
vom Bildpaar links oben beginnend zu lesen, anschließend das Bildpaar
rechts oben, dann das links unten und schließlich rechts unten.
Gott als Architekt des Universums
Die berühmte Eingangsminiatur der Bible moraliseé stellt gleichsam als
Titelbild Gott als Weltenschöpfer dar. In einem Bild ist hier die
Erschaffung von Himmel, Erde, Sonne, Mond und allen Elementen
zusammengefaßt. Die Darstellung des ausschreitenden Schöpfergottes, der
den Kosmos gleichsam vor sich herrollt, sich über ihn beugt und ihn mit
dem Zirkel messend formt, hat nicht nur wegen ihrer Eindruckskraft die
Aufmerksamkeit auf sich gezogen, sondern auch, weil sie wie kaum ein
anderes Bild die Bedeutung des Messens und der Proportionen im
Mittelalter zu veranschaulichen hilft.