Keine
extravagante Spielerei, sondern buchmalerische und buchbinderische
Kunst auf allerhöchstem Niveau: Das einzige runde Buch des Mittelalters
besteht aus 266 annähernd kreisrund beschriebenen Blättern, die einen
Durchmesser von nur 9 cm haben. Was für ein buchmacherisches Wagnis, sie
alle mit einem Buchrücken von nur 3 cm zusammenzuhalten! Im
geschlossenen Zustand helfen deshalb drei Schließen, die in der Form
eines gotischen Monogramms gearbeitet sind. Den Maler des Codex
rotundus, der in Brügge mindestens in einem Fall mit dem berühmten
„Meister des Dresdener Gebetbuchs“ zusammengearbeitet hat, hat die
Herausforderung des winzigen Formates offensichtlich zur Höchstform
beflügelt. Bestaunenswertes Ergebnis sind jedenfalls die drei
ganzseitigen Miniaturen. Und noch mehr Konzentration auf das Wesentliche
mag für die noch viel kleineren 30 historisierten Initialen nötig
gewesen sein, von denen jede ihre eigene Geschichte erzählt.
Codex Rotundus
Die
mittelalterliche und frühneuzeitliche Buchkultur hat immer wieder
herausragende und spezielle Handschriften hervorgebracht: Seien es
Prachteinbände, großzügig mit Gold und Silber versehene Illustrationen
oder Codices, geschrieben auf purpurgefärbtem Pergament. Oft aber liegt
das Großartige im Kleinen, so wie bei dieser Handschrift: Sie fasziniert
nicht nur in ihrer Kleinheit, sondern auch in ihrer Form. Hinter dem
heutigen Namen Codex rotundus verbirgt sich ein 266 Blatt starkes
Stundenbuch in lateinischer und französischer Sprache. Einzigartig sind
Form und Größe der Handschrift: Die Blätter sind annähernd rund
beschnitten und messen etwas mehr als 9 cm im Durchmesser. Das
buchbinderische Wagnis ist enorm: Da die Lagen auf einen nur 3 cm
breiten Rücken geheftet sind, wird der Buchblock mit drei Schließen
zusammengehalten. Die originalen Schließen sind beim Neubinden der
Handschrift im 17. Jahrhundert wiederverwendet worden; sie sind als
Monogramm aus kunstvoll ineinandergesteckten gotischen Buchstaben
gebildet.
Ein Herzog von Kleve als Auftraggeber?
Für
wessen Augen der üppige, abwechslungsreiche und unterhaltsame
Bilderschmuck des Codex rotundus ursprünglich bestimmt war, darüber gab
einst die Initiale „D“ Auskunft, mit der auf fol. 24r die Kreuz-Horen
als erster eigentlicher Text nach dem Kalender beginnen. Sie ist mit
einem Wappen gefüllt, das ein späterer Besitzer zwar zu zerstören
versucht hat, an dem man aber immer noch die roten Felder mit Resten des
klevischen Karfunkels und die goldenen Felder mit dem geschachten
Balken der Grafschaft Mark sowie den blauen Herzschild ausmachen kann.
Erstbesitzer und möglicherweise auch Auftraggeber war also ein Herzog
von Kleve und Graf von der Mark.
Adolf von Kleve und die Herzöge von Burgund
Mit
Adolf von Kleve und von der Mark, Herr zu Ravenstein und Winnendahl,
begegnen wir einem Adligen, der aufs engste mit dem burgundischen
Herzogshof verbunden ist. Der Neffe Herzog Philipps des Guten, an dessen
Hof er aufwächst, nimmt an allen großen Kriegszügen seines Onkels teil.
Er bleibt auch dessen Sohn und Nachfolger Karl dem Kühnen treu, der ihn
zum Statthalter von Arras und 1475 sogar zum Generalstatthalter der
Niederlande ernennt. Die Verbindung Adolfs zum burgundischen Hof wird im
Jahre 1470 durch die Heirat mit Anna von Burgund, einer illegitimen
Tochter Philipps des Guten und Gouvernante von dessen Enkelin Maria von
Burgund (1457–1482), weiter ausgebaut. Maria selbst schätzt Adolf so
hoch, dass sie ihn 1478 als Taufpaten ihres Erstgeborenen Philipps I.
wählt. Nach ihrem Tod setzt Maximilian I. den Klever Herzog als
Vorsitzenden des Regentschaftsrates für seinen Sohn ein. Von daher ist
es nicht nur leicht verständlich, dass Adolf sich für sein Stundenbuch
an eine Brügger Werkstatt wendet, sondern auch, dass er ein so
extravagantes Buch begehrt. Am burgundischen Herzogshof kommt er mit
einer hoch entwickelten Buchkultur in Berührung, die Innovation
schätzte. Auf Adolf von Kleve bezieht sich auch das Monogramm der
Schließen. Die außergewöhnlich stilisierten Buchstaben lassen sich bis
heute nicht eindeutig lesen. Doch dieselben Zierbuchstaben schmücken
einige Bordüren eines anderen Stundenbuchs aus Adolfs Besitz in
Baltimore (Walters Art Gallery, W 439). Auf dem dortigen Besitzerbild
fol. 13v/14r ist das Wappen vollständig erhalten, so dass kein Zweifel
an der Identität des Dargestellten besteht.
Der "Maler des Codex rotundus": flämische Schule mit individuellem Charakter
Rund
sind nicht nur die Blätter, sondern auch der Textspiegel und die drei
ganzseitigen Miniaturen. Diese stammen ebenso wie die 20 fünfzeiligen
und 10 vierzeiligen historisierten Initialen von einem höchst
originellen Buchmaler, der nach der Hildesheimer Handschrift als „Maler
des Codex rotundus“ in die Kunstgeschichte eingegangen ist. Stilistische
Parallelen verbinden ihn mit einem anderen großen Brügger Buchmaler,
dem „Meister des Dresdener Gebetbuchs“, mit dem er mindestens in einem
Fall zusammengearbeitet hat. Vermutlich hat der Rotundus-Maler eine
Zeitlang in der Brügger Werkstatt des Dresdener Meisters mitgearbeitet
und ist von diesem in vielerlei Hinsicht angeregt worden.