Eine der vollendetsten karolingischen Handschriften
Zu
den größten Schätzen der Bibliothèque nationale in Paris gehört eine
Handschrift, die eines der schönsten Denkmäler der karolingischen
Buchkunst überhaupt darstellt. Es handelt sich hierbei um ein
Sakramentar, das Bischof Drogo (823–855) für seinen eigenen Gebrauch
schreiben und malen ließ und das zum Denkmal seines Namens geworden ist.
Drogo, der illegitim geborene Sohn Karls des Großen, war einer der
bedeutendsten Mäzene des 9. Jh.s. Er hat als großer Kunstliebhaber
Berühmtheit erlangt, nicht zuletzt, da er seine Kathedrale in Metz mit
Werken ausstattete, die in ihrer Schönheit und Kostbarkeit zu den
Höhepunkten der karolingischen Kunst zählen. Dazu gehören auch drei
Handschriften, deren jüngste und zugleich reifste und vollendetste
Schöpfung das Drogo-Sakramentar ist.
Ein erlesenes Kunstwerk
Das Drogo-Sakramentar hat einen sehr persönlichen Charakter und ist
sicher nicht das Produkt eines monastischen Skriptoriums, wo
Handschriften für die praktischen Bedürfnisse einer geistlichen Anstalt
oder für den Export angefertigt wurden. Vielmehr haben wir es hier mit
einer ausgesprochenen Hofkunst zu tun. Das Sakramentar spiegelt den
individuellen, sehr kultivierten Charakter eines Auftraggebers wider,
der Künstler und Schreiber beschäftigte, die seinen hohen Ansprüchen
genügten.
Nur wenige Künstler – kaum mehr als zwei oder drei – arbeiteten an der
Ausstattung dieser Handschrift und vereinten Ornamentik, figürliche
Darstellungen und verschiedene Schriftarten zu einer Gesamtkomposition,
die sich durch eine einzigartige Schönheit und Klarheit in der
Gliederung des Textes auszeichnet.
Die Initialen
Ein wesentliches Schmuckelement des Sakramentars stellen die reich
verzierten Initialen dar, die mit dem Text in Verbindung stehen. In
ihrer einfacheren Ausstattung bestehen sie aus goldenen Blättern und
Ranken, die sich um den Buchstabenkörper schlingen. Die größeren
Buchstaben und die ganzseitigen Prachtinitialen hingegen stehen in einem
direkten Bezug zum Inhalt des Textes, den sie einleiten. Sie stellen
historische Szenen aus dem Leben Jesu und der Heiligen dar und sind mit
antiken Formen wie Weinranken, Architekturelementen und spielenden
Eroten phantasievoll geschmückt.
Engste Verwandtschaft mit diesen Initialen zeigen die Elfenbeinreliefs
des Einbandes, der die Originalhandschrift schützt und im Kommentarband
zur Faksimile-Ausgabe abgebildet ist. Auf ihnen sind teilweise die
gleichen Szenen dargestellt wie in den Miniaturen, indem die gleichen
Architekturelemente sowie öfters auch Personen in der gleichen Stellung
und Kleidung wieder begegnen.
Ein für die Ikonographie bedeutendes Werk
Eine besondere Bedeutung für die Geschichte der Buchmalerei und
besonders für die Ikonographie hat die Initiale zum Palmsonntag mit der
Darstellung der Kreuzigung Christi (fol. 43v). Es ist das früheste
Beispiel einer mehrfigurigen Kreuzigungsdarstellung in der
karolingischen Buchmalerei. Hier erscheinen unter dem Kreuz zum ersten
Mal zwei allegorische Figuren, die das Neue und das Alte Testament
repräsentieren. Auffallend ist, dass dabei das Judentum nicht abwertend
dargestellt ist, wie das später fast immer der Fall war. Vielmehr fügt
sich der alte Mann als Vertreter des Judentums positiv in die Szene ein,
indem er auf die Erfüllung des Prophetenwortes und den Besieger des
Todes hinweist, während Ecclesia als Allegorie der christlichen Kirche
in einem Kelch das Blut aus der Seitenwunde Christi auffängt.
Der Kelch als Attribut der Ecclesia tritt hier zum erstenmal auf und ist
rein christlichen Ursprungs, während die hasta signifera, die Lanze mit
der Fahne als Feldzeichen, welche Ecclesia in der linken Hand hält, auf
die Antike zurückgeht und ein Zeichen der Herrschaft ist. Ebenso ist
die Scheibe, die der Greis in seiner Hand hält, ein Herrschaftszeichen.
Sie stellt den Erdkreis dar und ist eine Vereinfachung der Kugel als
Sinnbild des Kosmos, die seit der römischen Kaiserzeit Attribut der
Weltherrschaft war.
Ein kalligraphisches Kunstwerk
Der liturgische Text ist außerordentlich sorgfältig geschrieben, wobei
verschiedene Schriftarten verwendet wurden. Zur Minuskelschrift des
fortlaufenden Textes treten in allen Abschnitten goldfarbene Kapitalen,
Capitalis rustica und Uncialis, hinzu und tragen so nicht nur zur
Betonung einzelner Passagen, sondern auch zu einer klaren graphischen
Gliederung des Textes bei.
Das eigentliche Hauptstück des Sakramentars, der Canon missae (fol.
14r–21r), wird durch einen Schmuck von ganz außerordentlichem Reichtum
hervorgehoben, indem hier besonders zahlreiche goldene Initialen,
figürliche Darstellungen sowie aufwendige Rahmungen vor Augen treten und
der Text durchgehend in glänzenden Goldbuchstaben geschrieben ist.
Das persönliche Sakramentar des Bischofs Drogo
Das Sakramentar war nicht zur allgemeinen Benützung für alle Tage des
Kirchenjahres bestimmt, sondern nur für die Benützung durch den Bischof.
Es enthält daher nur jene Feste, an denen der Bischof selbst den
Gottesdienst feierte, dafür aber auch die Gebete für die Sakramente und
Weihungen, die dem Bischof vorbehalten sind.