Ein
erstaunliches Buchprojekt wurde noch vor 1400 vom Burgunderherzog Jean
de Berry in Auftrag gegeben. Es handelt sich dabei um ein Stundenbuch,
das von den größten Künstlern des mittelalterlichen Europa über einen
Zeitraum von mehr als einem halben Jahrhundert geschaffen wurde. Das
sogenannte Turin-Mailänder Stundenbuch, welches zwischen 1380 und etwa
1440 bearbeitet und immer wieder in einzelne Fragmente zerlegt und
wieder zusammengefügt wurde, ist ein unvergleichbarer Meilenstein der
gotischen Buchkunst. An der unfassbar hochwertigen Ausstattung des Codex
war wohl unter anderem Jan van Eyck beteiligt. Es sind die einzigen
Buchillustrationen, die der große altniederländische Meister in seiner
Karriere geschaffen hat.
Das Turin-Mailänder Stundenbuch
Hinter
dem sogenannten Turin-Mailänder Stundenbuch verbirgt sich ein
handgeschriebener und illuminierter Codex, der in der Geschichte
mittelalterlicher Manuskripte eine einzigartige Stellung besitzt. Es
wurde im Lauf der Zeit immer wieder in Fragmente geteilt und befand sich im Besitz der wichtigsten Adelshäuser Europas.
Seinen Titel erhielt das Buch durch seinen zeitweiligen Aufenthaltsort
im Hause Savoyen, dem Herrscherhaus von Mailand, von wo aus es in die
Turiner Nationalbibliothek gelangte. Das Werk kombiniert stilistische
Einflüsse aus zwei Stundenbüchern, eines davon trägt den Titel „Très Belles Heures de Notre-Dame“ und das andere wird als „Heures de Turin“ bezeichnt. Es ist ein unvergleichliches, einmaliges Gebets- und Messbuch, dass in einem mehrere Generationen umfassenden Zeitraum von einem erstaunlichen Kollektiv der größten Künstler des Mittelalters gestaltet wurde. Das Stundenbuch enthält 28 ganzseitige, beeindruckende Miniaturen. Besondere Berühmtheit erlangten einige Miniaturen, die mit größter Wahrscheinlichkeit von Jan van Eyck - dem Begründer der Porträtkunst und Vater der großartigen altniederländischen Malerei - geschaffen wurden.
Die Entstehungsgeschichte des Meisterwerkes
Das
Turin-Mailänder Stundenbuch wurde etwa zwischen 1380/90 und den 1440er
Jahren in Paris und Flandern hergestellt. Ursprünglich liegt dem
Stundenbuch ein monumentales Werk zugrunde, das vom schillernden Burgunderherzog Jean de Berry
in Auftrag gegeben wurde, nämlich die „Très Belles Heures de
Notre-Dame“. Zwei unfassbar talentierte Illuminatoren besorgten die
Ausstattung dieses Werkes bis zum Tode des Herzoges im Jahr 1416. Das
unvollendete Werk gelangte über Erbwege in den Besitz des Grafen Johann von Holland, welcher um 1424 Jan van Eyck mit der Fertigstellung beauftragte. Dieser wurde nur eine kurze Zeit später an den Hof Philipps des Guten berufen, wo er sich weiterhin mit dem monumentalen Projekt befasste. Van Eycks Tod im Jahr 1441 beendete die Arbeit am Stundenbuch abrupt.
Um dem großen Künstler Tribut zu zollen und seine Arbeit angemessen zu
würdigen, beauftragte Herzog Philipp einen weiteren, nicht näher
bekannten Maler aus Flandern, der den Codex nach den stilistischen Vorgaben van Eycks endlich fertigstellte.
Die höchste Riege der Buchkünstler
Über
die Buchmaler der 28 Miniaturseiten existieren unterschiedlichste
Theorien. Ein Künstler, der sich im letzten Drittel des 14. Jahrhunderts
mit der Handschrift beschäftigte, wird mit dem Notnamen „Meister des Paraments von Narbonne“ bezeichnet. Ein weiterer Maler aus diesem Zeitraum hat den Namen „Meister Johannes’ des Täufers“ erhalten. Einige Miniaturen wurden in einer besonders hochwertigen Maltechnik, der sogenannten Grisaille-Malerei, gefertigt. Diese Bilder wurden von einem mit dem Notnamen „Meister G“ betitelten Künstler hergestellt. Hinter dem geheimnisvollen Meister G verbirgt sich mit allergrößter Wahrscheinlichkeit Jan van Eyck.
Die unverwechselbaren Darstellungen spiegeln eindeutig den Stil des
bedeutenden Künstlers wieder. Möglicherweise waren auch die Brüder van Eycks, Barthélemy und Hubert van Eyck,
an der Gestaltung des Codex beteiligt. Es existiert kein weiteres Werk
aus dieser geschichtlichen Epoche, das von so einem erstaunlichen
Künstlerkollektiv bearbeitet wurde.
Historisch bedeutende Illumination
Das Turin-Mailänder Stundenbuch ist ein absolutes Hauptwerk der gotischen Buchmalerei.
Einige der Miniaturen zählen zu den schönsten Zeugnissen der
spätgotischen Malerei in Frankreich, während andere einen
revolutionären, illusionistischen Stil aufweisen. Ebendiese neuartigen Darstellungen begründeten die altniederländische Malerei, die für die Geschichte der Kunst noch immer von unermesslicher Bedeutung
ist. Besonders die Jan van Eyck zugeordneten Bilder versetzten
Historiker und historisch interessierte Buchliebhaber in ehrfürchtiges
Staunen. Sie zeigen die sagenhafte Fähigkeit des Künstlers, mit Hilfe
von meisterhaft in der Malerei umgesetzten Lichtreflexen Räumen des Alltags eine höhere Bedeutung zu verleihen. Gleichzeitig war van Eyck der erste, der es verstand, wirklichkeitsgetreue Porträts zu schaffen. Darüber hinaus führte er die Malerei zu einer mikroskopisch exakten Wiedergabe der Realität. Die Bedeutung des Turin-Mailänder Stundenbuches ist für die Geschichte der Buchkunst nicht zu ersetzen.