Dass
im Reichenauer Perikopenbuch viel strahlendes Gold und großzügig Purpur
verwendet werden, ist unbestreitbar. Aber weder stellt das seinen
eigentlichen Wert dar noch fällt dies dem Leser als erstes auf. In ihren
Bann ziehen ihn nämlich die Figuren auf den 9 unvergleichlichen
Miniaturseiten, die von der Geburt Jesu an wichtige biblische Szenen
meisterhaft in Szene setzen. Dazu zählt auch die Befreiung des Petrus
aus dem Gefängnis: Die dümmlich schlafenden Wärter haben keine Chance,
als ein Engel den souveränen Petrus befreit. Die Miniaturen und die
sechs prachtvollen Initialzierseiten machen das Werk einzigartig in der
gesamten deutschen Buchmalerei des Mittelalters. Von der prachtvollen
Ausstattung her ist die Vermutung statthaft, dass möglicherweise der
spätere Kaiser Heinrich II. (1002–1024) im Jahr 1013 dieses Werk dem
Hildesheimer Domkapitel schenkte: Ein furchtbarer Brand hatte dort kurz
zuvor verheerend gewütet.
Höhepunkt der Reichenauer Buchkunst in kaiserlich-goldenen Bildern
Kaum
eine Epoche in der Geschichte der Buchmalerei hat so eindrucksvolle und
prächtige Handschriften hervorgebracht wie das Zeitalter der Ottonen.
Und hier sticht vor allem ein Skriptorium hervor, in dem die besten
Buchmaler ihrer Zeit Codices von unvergänglicher Kunstfertigkeit und
Schönheit geschaffen haben: das Skriptorium des Klosters Reichenau.
Eine der eindrucksvollsten und schönsten dieser Reichenauer
Handschriften wird heute in der Herzog August-Bibliothek in Wolfenbüttel
wie ein Staatsschatz gehütet – und das zu Recht. Denn das Reichenauer
Perikopenbuch, vielleicht in Auftrag gegeben vom deutschen Kaiser
Heinrich II. selbst, besticht durch die reiche Verwendung von Purpur und
Gold. Ikonographisch und künstlerisch ist das Reichenauer Perikopenbuch
mit seinen neun unvergleichlichen Miniaturseiten und sechs prachtvollen
Initialzierseiten einzigartig in der gesamten deutschen Buchmalerei des
Mittelalters.
Ein goldenes Perikopenbuch
Die Handschrift in Wolfenbüttel ist ein Evangelistar: Die 109 Lesungen
(Perikopen) stammen ausschließlich aus den vier Evangelien und sind in
der Lesefolge des Kirchenjahres angeordnet. Ausgewählte Hochfeste wurden
mit insgesamt neun ganzseitigen Miniaturen illustriert, die durch
ausgesprochen reiche Goldauflage und strahlende Farben bestechen. Dazu
kommen noch sechs ganzseitige
Initialzierseiten, deren große,
ornamental gestaltete Initialen bestimmte Lesungen hervorheben und
einleiten. Die unglaublichen Farben der Zierelemente, darunter viel
kaiserlicher Purpur und feinste Goldranken, bezeugen den hohen Anspruch
der Handschrift ebenso wie der großzügige Textspiegel und die
zahlreichen goldenen Textinitialen.
Die Reichenau – unglaubliche Schaffenskraft am Zenit deutscher Buchmalerei
Das Evangelistar in Wolfenbüttel entstand vor etwa 1000 Jahren im
Skriptorium des Benediktinerklosters Reichenau. Im Zeitalter der Ottonen
entstanden auf der Reichenau prachtvoll ausgestattete Handschriften für
hochgestellte Auftraggeber und Empfänger wie Otto III., Heinrich II.
oder den Trierer Erzbischof Egbert. Die erhaltenen Zeugnisse zählen zu
den kostbarsten und eindrucksvollsten künstlerischen Äußerungen des
frühen Mittelalters.
Die Miniaturen: Strahlendes Gold und kaiserlicher Purpur in unerreichter Kunstfertigkeit
Die Miniaturen des Reichenauer Perikopenbuchs sind auf glänzenden
Goldgründen in Deckfarben ausgeführt, die von ihrer ursprünglichen
Strahlkraft nichts eingebüßt haben. Der Bilderzyklus beginnt mit einer
Darstellung der Geburt Christi und der Hirtenverkündigung. Die Anbetung
der Könige etwa verbindet eine übergroß dargestellte Maria mit dem Kind
auf ihrem Schoß mit den herantretenden drei Weisen aus dem Morgenland,
die ihre Gaben in erhobenen Händen präsentieren.
Eine einzigartige Kombination aus figürlichem Bild und Initiale findet
sich zur Lesung am Karsamstag: Die berühmte Miniatur zeigt eine
männliche Figur, die den Stamm einer großen I-Initiale emporklettert.
Selten dargestellt wurde die darauf folgende Befreiung Petri aus dem
Kerker. Den Bilderzyklus der Handschrift beschließt eine Miniatur mit
dem Tod und der Aufnahme der Gottesmutter Maria in den Himmel: Ein
Bildthema, das erst wenige Jahre vor der Entstehung des Reichenauer
Perikopenbuchs in der westlichen Kunst nachweisbar ist. Somit ist unser
Codex ein einzigartiges Zeugnis phantastischer Schaffenskraft der
Reichenauer Schule.
Verheerende Brandkatastrophe und Kriegswirren: Entstehung und Geschichte der Handschrift
Auftraggeber und Bestimmungsort des Reichenauer Perikopenbuchs sind
aufgrund fehlender Quellen nicht mit Sicherheit bestimmbar. Einen
Hinweis gibt die Betonung des Festes des Todes und der Aufnahme Mariens
in den Himmel: Das Bild zu diesem Fest (fol. 79v) wird an prominenter
Stelle auf dem vorderen Buchdeckel im prachtvollen Elfenbeineinband
übereinstimmend wiederholt.
Den Kriegswirren entronnen
Herzog August der Jüngere von Braunschweig-Lüneburg (1579–1666), ein
berühmter Sammler des 17. Jahrhunderts und Begründer der heutigen Herzog
August Bibliothek in Wolfenbüttel, erwarb die Reichenauer Handschrift
um 1658, vermutlich von einem unbekannten Sammler. Dieser hatte damals
in größerer Zahl Handschriften aufbewahrt, die während der Besetzung
Hildesheims im Zuge des Dreißigjährigen Kriegs entwendet worden waren.
Mindestens sieben dieser Handschriften sind aus dem Hildesheimer
Michaeliskloster herzuleiten, dessen Patronin Maria war. Somit spricht
einiges dafür, dass das Reichenauer Perikopenbuch einst Hauptbestandteil
des Hildesheimer Domschatzes war.
Ein Geschenk Heinrichs II.?
Vielleicht war es Teil der Krönungstagsstiftung Heinrichs II.
(1002–1024), die dieser am 26. März 1013 anlässlich seines Besuchs beim
Hildesheimer Domkapitel niederlegte.
Denn Hildesheim war zu Beginn dieses Jahres von einer Katastrophe
betroffen: am 20. Januar 1013 vernichtete ein verheerender Brand vor
allem den Archiv- und Buchbestand des Klosters. Das könnte dem späteren
Kaiser den besonderen Anlass gegeben haben, mit seiner Güterstiftung
auch ein Buchgeschenk zu verbinden. Auch die prachtvolle Ausstattung des
Reichenauer Perikopenbuchs mit Gold und Purpur könnte ein Hinweis
darauf sein.